Ein halbes Jahrzehnt ist die Veröffentlichung von Mass Effect 3 – dem letzten Teil von BioWares Weltraum-Rollenspiel-Trilogie rund um Commander Shepard – bereits her. Letzte Woche erschien mit Mass Effect: Andromeda der erste Nachfolger mit einer neuen Galaxie, einem neuen Helden und neuen Spielmechaniken. Ein gelungener Neustart oder doch eher eine Bruchlandung?
Rund 600 Jahre nach den Ereignissen der Mass-Effect-Trilogie befindet sich die Menschheit in der Andromedagalaxie. Im Rahmen eines Projekts mit dem Namen Andromeda Initiative haben sich nicht nur Menschen, sondern auch Angehörige anderer Volksgruppen auf den Weg in diese Galaxie gemacht, um einen Neuanfang zu wagen. Als die ersten Teilnehmer aus ihrem Kälteschlaf erweckt werden, sehen sie sich aber mit einer Reihe unerwarteter Probleme konfrontiert. Die ursprünglich als bewohnbar eingestuften Planeten sind genau das Gegenteil, auf der Nexus – dem geplanten Regierungssitz – herrschen Machtkämpfe und Uneinigkeit über das weitere Vorgehen und bereits die erste neu entdeckte Alien-Rasse erweist sich als aggressiv und feindlich gesinnt. Mehr denn je wird ein Pathfinder benötigt – eine Person, die in der neuen Galaxie Planeten finden und bewohnbar machen soll, damit das Projekt der Kolonialisierung umgesetzt und das Überleben aller Teilnehmer der Andromeda Initiative gewährleistet werden kann.
Wenig überraschend fällt die Rolle des neuen Pathfinders dem Spieler zu, der sich wahlweise als Scott oder Sara Ryder auf den Weg macht, eine neue Heimat für die Menschheit zu finden. Egal, ob man sich für einen weiblichen oder männlichen Ryder entscheidet – angesichts des Charaktereditors stellt sich erstmals die Frage, ob die Kolonialisierung einer neuen Galaxie sich auch nur annähernd so schwierig gestalten wird, wie die Erschaffung eines halbwegs ansehnlichen Protagonisten. Die vom Editor vorgegebenen Gesichter sind einfach zu spezifisch und die Möglichkeiten der individuellen Anpassung gleichzeitig zu gering – je nach persönlichem Anspruch kann es also durchaus länger dauern, bis man mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden ist.
Ist die Hürde der Charaktererstellung genommen, wirft Mass Effect: Andromeda seine Spieler aber recht schnell mitten ins Geschehen. Die Grundlagen werden zügig, aber zumeist ausreichend erklärt und die Geschichte nimmt rasch an Fahrt auf. Spätestens nach der Erkundung des ersten Planeten stellt sich wieder das altbekannte Mass-Effect-Spielgefühl ein. Es macht nach wie vor jede Menge Spaß, durch das Weltall zu fliegen, Planeten zu erkunden und vor allem ausführliche Gespräche zu führen.
Gespräche laufen im Grunde wie in den Vorgängern ab und sind erneut sehr gut vertont, allerdings sind Ryders Reaktionen auf sein Gegenüber nun deutlicher differenziert. So wählt man keine strikt „gute“ oder „böse“ Antwort mehr, sondern antwortet wahlweise emotional, logisch, zwanglos oder professionell. Zwar fördert das eine gewisse Reflexion, weil nicht mehr so klar erkennbar ist, welche Antwort einer moralischen Richtung zugehörig ist – es wirkt dadurch aber umso platter, dass sämtliche romantische Dialogoptionen mit einem großen Herz gekennzeichnet sind. Folge diesem Weg und gelange zur Romanze – hier wäre weniger Händchenhalten mehr gewesen. Optisch fallen in den Gesprächen, wie nahezu überall im Internet bereits ausführlich diskutiert, vor allem die oftmals unzureichenden Gesichtsanimationen auf. Zwar ist es nicht so schlimm, wie die vielen GIFs vermuten lassen und von einer kompletten Zerstörung der Immersion zu sprechen wäre maßlos übertrieben – es gibt aber durchaus Momente, die unfreiwillig komisch wirken, weil einem Gesprächspartner die Gesichtszüge allzu sehr entgleiten. Gut ist das nicht, allerdings rechtfertigt es auch keinen Aufruf zum Boykott des Spiels.
Neben den Gesprächen stellt das Kampfsystem das zweite wichtige Gameplay-Standbein in Mass Effect: Andromeda dar. Hier positioniert sich das Spiel als 3rd-Person-Deckungsshooter und funktioniert solide, echte Freude kommt bei den Gefechten aber nur sehr selten auf. Zu ungenau funktioniert das Aiming, zu schwammig fühlt sich das Feedback der einzelnen Waffen an und zu hakelig gestaltet sich der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Kampfprofilen. Mass Effect war nie für sein herausragendes Kampfsystem bekannt und wird es auch jetzt nicht werden. Als Mittel zum Zweck funktioniert das Kampfsystem – die Präzision und das Spielgefühl eines Gears of War darf man jedoch nicht erwarten.
Ein neues Spielelement stellen die APEX-Missionen dar, in denen angeheuerte Teams wahlweise vom eigenen Schiff oder per App vom Smartphone aus auf Einsätze geschickt werden können – Kenways Flotte aus Assassin’s Creed: Black Flag lässt grüßen. Bei bestimmten Missionen kann man als Spieler auch selbst eingreifen und – eine aktive Internetverbindung vorausgesetzt – dem jeweiligen Team Verstärkung geben. Gelingt es, die Missionen erfolgreich zu beenden, winken als Belohnung Rohstoffe oder Gegenstände, die zu Forschungszwecken oder zur Weiterentwicklung von Waffen und Rüstungen eingesetzt werden können. Diese kleinen Missionen fügen sich angenehm ins Spielgeschehen ein und sorgen für eine kurzweilige Ablenkung von der Kolonialisierung der Galaxie.
Mass Effect: Andromeda ist ein gutes Beispiel dafür, dass nicht immer alles nur schwarz oder weiß ist – ja, das Spiel hat seine Fehler und nicht alle Neuerungen sind gut. Ich hege eine persönliche Abneigung gegen die Kompass-Navigation am oberen Bildschirmrand, die man von Bethesdas Spielen kennt und mit der ich nun auch in Mass Effect: Andromeda auskommen muss – an belebten Orten erweist sich diese Navigation als zu unübersichtlich und irreführend. Dementsprechend oft musste ich den Umweg über das Hauptmenü nehmen, um dort die detaillierte Karte eines Gebiets einsehen zu können. Hier wäre ein anpassbares HUD, bei dem ich auf die Kompass-Navigation verzichten und stattdessen direkt eine Mini-Map einblenden könnte ein Segen für meine Nerven gewesen. Weiters vermisse ich die deutlich übersichtlicheren Menüs aus Mass Effect 1-3. Die Gesichtsanimationen haben mich viel weniger gestört, als die gelegentlichen Ruckler und grafischen Pop-Ups in Gesprächen. Ich könnte diese Liste der kleinen Unzulänglichkeiten noch weiter führen, doch am Ende muss die Frage gestellt werden: Ist Mass Effect: Andromeda ein schlechtes Spiel? Für mich ist es das eindeutig nicht. Ich habe Mass Effect nie wegen seines Kampfsystems oder seiner perfekten Menüführung gespielt, sondern weil mich die großen und kleinen Geschichten im Weltraum und die Biographien der einzelnen Charaktere interessiert haben. All diese Dinge sind auch in Mass Effect: Andromeda wieder enthalten – ich habe teilweise Stunden mit Gesprächen verbracht, die Crew der Tempest birgt viel Potenzial für eine gute Entfaltung der Story und es hat nicht lange gedauert, bis das typische Mass-Effect-Spielgefühl wieder vorhanden war, für das ich die Trilogie so schätzte.
Die Frage, ob es wirklich schon an der Zeit war, Mass Effect: Andromeda zu veröffentlichen, ist berechtigt. Ein paar Monate Feinschliff hätten dem Spiel bestimmt gut getan und im März sind mit Horizon: Zero Dawn und The Legend of Zelda: Breath of the Wild extrem starke Konkurrenten erschienen. Wer Mass Effect bisher noch nie gespielt hat, sollte definitiv mit der Trilogie rund um Commander Shepard starten – wer Mass Effect aber kennt und mag, wird auch in der Andromedagalaxie Spaß haben. Das Grundgerüst, das BioWare mit Mass Effect: Andromeda für eine neue Reihe gelegt hat, ist durchaus solide – wenn man der Serie künftig auch den Feinschliff zuteil werden lässt, den sie verdient hat, steht uns hier erneut etwas ganz Besonderes bevor.
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Hinweis: Electronic Arts war so freundlich, uns für diesen Beitrag ein Testmuster der PS4-Version des Spiels zur Verfügung zu stellen.